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06.05.2022, Hessen

Formal korrektes Angebot kann formwidriges ersetzen

Sollen Angebote „digital“ abgegeben werden, meint das regelmäßig die Abgabe über ein Vergabeportal und nicht die Angebotsabgabe per E-Mail. Nicht selten kommt es aber vor, dass ein Angebot „im Eifer des Gefechts“ zunächst formwidrig per E-Mail eingereicht wird. Wenn der Fehler erkannt wird, fragen sich Bieter häufig, ob sie noch fristgerecht ein formgerechtes Angebot über das Vergabeportal einreichen können. Auftraggeber fragen sich umgekehrt, ob ein erst formwidrig und dann formwirksam eingereichtes Angebot in der Wertung bleiben kann. Das OLG Frankfurt bejaht das.

Was war geschehen?
In einem offenen Verfahren hat die Antragsgegnerin europaweit eine Rahmenvereinbarung zur Beauftragung von Sachverständigen zur Erstellung von Gutachten für ein Polizeipräsidium ausgeschrieben. Dabei waren nach der Auftragsbekanntmachung Angebote oder Teilnahmeanträge elektronisch über das Vergabeportal einzureichen. Die Informationen zur digitalen Angebotsabgabe waren als Kurzanleitung Teil des Leistungsverzeichnisses. Weitere ausführlichere Hinweise zur „digitalen“ Angebotsabgabe sowie zu den Systemvoraussetzungen fanden sich auf der Startseite der Vergabeplattform. Zudem wurden die Bieter darauf hingewiesen, dass nicht form- oder fristgerecht eingereichte Angebote ausgeschlossen werden.

Ein Unternehmen, die Antragstellerin, übermittelte entgegen dieser Vorgabe sein Angebot nicht über das angegebene Vergabeportal, sondern unverschlüsselt als Anlage einer E-Mail. Die Vergabestelle machte die Antragstellerin auf die formfehlerhafte Einreichung aufmerksam. Die Antragstellerin gab ihr Angebot deshalb erneut ab und zwar innerhalb der Angebotsfrist und unter Beachtung der Formvorgaben.

Die Vergabestelle schloss daraufhin beide Angebote aus. Das erste Angebot, weil es unter Missachtung der Form einegereicht wurde und das zweite (formwirksame) Angebot, weil es nach Auffassung der Vergabestelle durch das unverschlüsselte erste Angebot „infiziert“ wurde. Mit anderen Worten ging die Vergabestelle davon aus, dass sich die Unwirksamkeit des ersten Angebots auf das zweite (formwirksame) Angebot überträgt. Nach erfolgloser Rüge reichte das Unternehmen einen Nachprüfungsantrag ein, um das zweite (form- und fristgerechte) Angebot zur Wertung zu zulassen und bestenfalls den Zuschlag zu erhalten. Die Vergabekammer gab dem Nachprüfungsantrag statt. Dagegen wendete sich die Vergabestelle mit Beschwerde zum OLG Düsseldorf. Ohne Erfolg!

Die Entscheidung des OLG Frankfurt
Das OLG hat sich der Auffassung des Unternehmens angeschlossen und die Beschwerde zurückgewiesen. Nach Auffassung der Frankfurter Richter war das zweite Angebot form- und fristgereicht eingereicht worden. Ein Ausschlussgrund nach § 57 Abs. 1 Nr. 1 VgV i.V.m. § 53 VgV lag nach Auffassung des OLG Frankfurts nicht vor.

Das Angebot war auch nicht deshalb auszuschließen, weil zuvor ein Angebot unverschlüsselt per E-Mail abgegeben worden war. Angebote seien nach § 57 Abs. 1 VgV nur dann auszuschließen, wenn sie nicht den Erfordernissen des § 53 VgV entsprechen. So soll sichergestellt werden, dass nur vergleichbare Angebote in die Wertung gelangen. Die Vergleichbarkeit des Angebots hinsichtlich Zeit- und sonstigen Formvorgaben sei jedoch nicht beeinträchtigt, wenn ein form- und fristgerecht eingegangenes Angebot in der Wertung bleibt, das zuvor nicht formgerecht per E-Mail eingereicht wurde. Denn der Bieter hatte dadurch weder einen Zeitvorteil noch sonstige Vorteile gegenüber anderen Bietern.

Das OLG Frankfurt nahm auch keine „Infektion“ (Übertragung der Unwirksamkeit) des später eingereichten Angebots durch das erste Angebot an. Zwar dürfe der öffentliche Auftraggeber nach § 55 VgV vom Inhalt der Angebote erst nach Ablauf der entsprechenden Fristen Kenntnis nehmen, um den Geheimwettbewerb sicherzustellen. Die Geheimhaltung wurde aber nicht verletzt, da kein Dritter Zugang zum Inhalt des Angebots hatte. Im Gegenteil: Die Vergabestelle selbst hat unmittelbar nach Eingang des Angebots per E-Mail darauf hingewiesen, dass dieses nicht berücksichtigt werde. Weitere Zugriffe durch eigene Mitarbeiter der Vergabestelle oder durch Außenstehende nicht ersichtlich.

Eine abstrakte Gefährdung des Geheimwettbewerbs reicht nicht aus und konkrete Anhaltspunkte für ein wettbewerbsbeschränkendes Verhalten gibt es nicht. Zudem erscheint der Ausschluss des formwirksamen Angebots schon im Hinblick auf die zuvor eingereichte E-Mail unverhältnismäßig. Wenn, wie im vorliegenden Fall, nachträgliche Manipulationen ohne Zweifel ausgeschlossen werden können, kommt ein Angebotsausschluss nicht in Betracht.

Praxishinweis
Die Entscheidung des OLG Frankfurt stellt sich gegen die bisherige Rechtsprechung des OLG Karlsruhe (Beschl. vom 17.03.2017, 15 Verg 2/17) sowie der VK Lüneburg (Beschluss vom 11.12.2018, VgK-50/2018). Beide Vergabenachprüfungsinstanzen hatten einen Angebotsausschluss wegen der abstrakten Gefährdung des Geheimwettbewerbs bei unverschlüsselten E-Mails angenommen.

Obwohl das OLG Frankfurt von der Entscheidung des OLG Karlsruhe und damit von einem anderen Oberlandesgericht abweicht, hat es die Sache nicht dem Bundesgerichtshof (Divergenzvorlage nach § 179 Abs. 2 GWB) vorgelegt. Das OLG Frankfurt hat das damit begründet, dass die Ausführungen des OLG Karlsruhe erstens ein verspätet abgegebenes Angebot betrafen und die weiteren Ausführungen zweitens nicht entscheidungserheblich waren. Bis die Sache vom Bundesgerichtshof geklärt werden kann, bleibt es bei den zwei Linien. Bieter sollten deshalb die Vorgaben des Auftraggebers genau lesen und nicht darauf vertrauen, dass sie für die formwirksame Angebotsabgabe „zwei Chancen“ haben.

QUELLE

Dr. Corina Jürschik, LL.M. ist Rechtsanwältin und Fachanwältin für Vergaberecht bei OPPENLÄNDER Rechtsanwälte, Stuttgart. Sie ist seit vielen Jahren im Bereich der öffentlichen Auftragsvergabe tätig. Sie unterstützt Bieter und Bewerber in Vergabeverfahren bei der Wahrung ihrer Rechte und berät öffentliche Auftraggeber bei der rechtssicheren Gestaltung von Vergabeverfahren.

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