14.05.2012, Europa

Bei Verdacht auf Dumping muss Behörde aktiv werden

EXPERTENBEITRAG: AUFKLÄRUNGSPFLICHTEN

Der vergaberechtskonforme Umgang mit – vermutlich – nicht auskömmlich kalkulierten Angeboten stellt in den meisten Vergabeverfahren hohe Anforderungen an öffentliche Auftraggeber bei der Verfahrensgestaltung, der Angebotswertung sowie der Durchführung von Aufklärungsgesprächen. Dasselbe gilt für die Frage der Prüfungs- und Aufklärungspflichten in Bezug auf inhaltlich unklare Angebote.

Behörde kann bei Ungenauigkeiten nachhaken, muss es aber nicht

Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hat in dieser Hinsicht mit Urteil vom 29. März 2012 (Rs. C-599/10) zum einen entschieden, dass öffentliche Auftraggeber bei einem Angebot, das einen ungewöhnlich niedrigen Preis aufweist, verpflichtet sind, den Bieter schriftlich aufzufordern, dieses Angebot zu erläutern. Zum anderen hat der Gerichtshof festgestellt, dass öffentliche Auftraggeber nicht verpflichtet sind, ein ungenaues oder ein Angebot, das den in den Vergabeunterlagen enthaltenen technischen Spezifikationen nicht entspricht, aufzuklären oder gar zu vervollständigen.

Dem Europäische Gerichtshof zufolge gebietet die maßgebliche Vorschrift der europäischen Vergabekoordinierungsrichtlinie (siehe Kasten) öffentlichen Auftraggebern im Falle eines Angebots, das im Verhältnis zur Leistung ungewöhnlich niedrig zu sein scheint, vor Ablehnung dieses Angebots „schriftlich Aufklärung über die Einzelposten des Angebots [zu] verlangen, wo er dies für angezeigt hält“. Außerdem ist der Gerichtshof der Überzeugung, dass Willkür nur verhindert und ein Wettbewerb zwischen den Unternehmen nur gewährleistet werden kann, soweit zu einem zweckmäßigen Zeitpunkt im Verfahren eine effektive Prüfung der Auskömmlichkeit der Angebote stattfindet.

Anders als bei ungewöhnlich niedrigen Angeboten enthält das europäische Vergaberecht keine Bestimmung, die ausdrücklich regelt, ob der Auftraggeber bei inhaltlich unklaren Angeboten zur Aufklärung verpflichtet ist oder nicht. Außerhalb des Verhandlungsverfahrens können nämlich einmal eingereichte Angebote nicht mehr geändert werden, weder auf Betreiben des öffentlichen Auftraggebers noch des Bieters.

Bemerkenswert ist die anschließende Feststellung des Europäischen Gerichtshofs, öffentliche Auftragnehmer könnten sich bei der Ausübung ihres Ermessens dafür entscheiden, die Bieter zur Erläuterung ihres Angebots – und sogar zur inhaltlichen Klarstellung oder Berichtigung – aufzufordern.

Bei der Ausübung dieses Ermessens haben öffentliche Auftraggeber alle Bieter gleich und fair zu behandeln. Keinesfalls dürfe am Ende des Verfahrens bei der Auswahl der Angebote der Eindruck entstehen, dass die Aufforderung zur Erläuterung oder inhaltlichen Berichtigung dazu geführt hat, dass der öffentliche Auftraggeber dieses Angebot insgeheim ausgehandelt hat.

EuGH: Einzelposten müssen gegebenenfalls überprüft werden

Die bislang herrschende Praxis ist davon ausgegangen, dass Angebote wegen eines nicht auskömmlich kalkulierten Preises nur ausgeschlossen werden können, wenn der Gesamtpreis wesentlich unter dem zu erwartenden Preis liegt. Nach Auffassung des EuGH müssen jedoch die Einzelposten ungewöhnlich niedriger Angebote überprüft werden. Außerdem könnte sich eine Abkehr der bisherigen Rechtsprechung abzeichnen, wonach Wettbewerbern grundsätzlich kein subjektives Recht auf Ausschluss eines nicht auskömmlichen Angebots zusteht. Bislang geht die nationale vergaberechtliche Rechtsprechung nämlich davon aus, dass die Prüfung der Auskömmlichkeit allein den Auftraggeber schützt und sich damit nicht als „drittschützend“ darstellt.

Demgegenüber begründet das Vorliegen eines ungenauen oder den technischen Spezifikationen der Ausschreibung nicht entsprechenden Angebots grundsätzlich keine Aufklärungspflicht. Hervorzuheben ist auch, dass öffentliche Auftraggeber im Rahmen ihres Ermessens Bieter zur Erläuterung ihres Angebots auffordern dürfen. Darüber hinaus soll es außerdem möglich sein, Angebote ausnahmsweise in einzelnen Punkten zu berichtigen oder zu ergänzen.

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