Informations- und Wartepflicht unterhalb der EU-Schwellenwerte?
Oberhalb der EU-Schwellenwerte müssen vor der Zuschlagserteilung die Bieter informiert und eine Wartefrist eingehalten werden. Das ergibt sich aus § 134 GWB. Aber gilt das auch ohne entsprechende Regelung unterhalb der EU-Schwellenwerte? 2017 war das OLG Düsseldorf der Auffassung „ja“ (Urteil vom 13.12.2017 – I-27 U 25/17); nun hat es diese Rechtsprechung wieder aufgegeben (Urteil vom 21.06.2023 – I-27 U 4/22).
Die Entscheidung des OLG Düsseldorf 2017
Das OLG Düsseldorf entschied 2017 (Urteil vom 13.12.2017 – I-27 U 25/17) über einen Fall, in dem eine Gemeinde (spätere Antragsgegnerin) einem Förderverein das Gelände eines ehemaligen Freibads überlassen wollte (Überlassungsvertrag). Ein Vergabe- oder Bieterverfahren wurde nicht durchgeführt. Dagegen wandte sich auf dem Zivilrechtsweg ein Unternehmen aus Österreich (spätere Antragstellerin), das ebenfalls Interesse an dem Überlassungsvertrag gehabt hätte und beantragte den Erlass einer einstweiligen Verfügung, um den Vertragsschluss zu verhindern. Es argumentierte, die Gemeinde (Antragsgegnerin) habe vor Abschluss des Überlassungsvertrags ein transparentes und diskriminierungsfreien Vergabeverfahrens (Bieterverfahren) durchführen müssen. Das Landgericht hatte den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Verfügung auch deshalb abgewiesen, weil der Vertrag schon vor Erlass der Verfügung geschlossen worden war. Im Berufungsverfahren gegen die Entscheidung des Landgerichts hatte das OLG Düsseldorf über die Sache zu entscheiden.
Das OLG Düsseldorf wies die Berufung gegen die Entscheidung des Landgerichts mangels Rechtsschutzinteresses als unzulässig zurück. In der Sache gab das OLG Düsseldorf der Antragstellerin aber insoweit recht, als dass die Durchführung eines transparenten und diskriminierungsfreien Vergabeverfahrens auch unterhalb der EU-Schwellenwerte und unterhalb einer Binnenmarktrelevanz aus Gründen der Gleichbehandlung (Art. 3 GG) erforderlich gewesen wäre. Bei Verstößen gegen die Pflicht, ein solches Verfahren durchzuführen, kann grundsätzlich auf dem Zivilrechtsweg ein Zuschlagsverbot durch eine einstweilige Verfügung erlangt werden. Ist der Vertragsschluss aber wie im Ausgangsfall schon geschehen, fehlt es regelmäßig am Verfügungsgrund.
Etwas anderes gelte aber dann, wenn der geschlossene Vertrag unwirksam oder nichtig sei. Eine Vertragsnichtigkeit hat das OLG Düsseldorf vorliegend nur unter dem Blickwinkel der Informations- und Wartepflichten für möglich gehalten: Die Antragsgegnerin hatte die Antragstellerin nicht über den bevorstehenden Vertragsschluss informiert und keine angemessene Wartefrist vor der Zuschlagserteilung eingehalten. Zwar erkannte das OLG Düsseldorf, dass die Einhaltung einer Informations- und Wartefrist unterhalb der EU-Schwellenwerte nicht geregelt sei. Der effektive und vollständige Schutz gegen Willkür eines öffentlichen Auftraggebers spreche als gewichtiger Grund aber dafür, auch im Unterschwellenbereich die Einhaltung einer Informations- und Wartepflicht zu verlangen. Der effektive Rechtsschutz führe insofern dazu, dass ein unter Verstoß gegen die Informations- und Wartepflicht geschlossener Vertrag gemäß § 134 BGB wegen „Verstoßes gegen ein ungeschriebenes Gesetz“ als nichtig eingestuft werde. Diese Erwägungen spielten im Ausgangsfall aber mangels Rechtsschutzinteresses keine Rolle mehr.
Aufhebung dieser Rechtsprechung durch das OLG Düsseldorf 2023
Diese Rechtsprechung hat das OLG Düsseldorf nun ausdrücklich aufgegeben (OLG Düsseldorf, Urteil vom 21.06.2023 – I-27 U 4/22).
Der Entscheidung des OLG Düsseldorf lag dieses Mal ein Fall einer Ausschreibung eines Rahmenvertrags für rechtsanwaltliche Beratungen nach § 9 UVgO (öffentliche Ausschreibung) in zwei Losen unterhalb der EU-Schwellenwerte zugrunde. Die Klägerin gab für beide Lose ein Angebot ab und bat um Übersendung eines Schreibens nach § 134 GWB, sollte ein anderer Bieter den Zuschlag erhalten. Dem kam der Beklagte nicht nach, vielmehr informierte er die Klägerin nachträglich über den erteilten Zuschlag mit dem Hinweis, ihr Angebot sei jeweils nicht das wirtschaftlichste gewesen. Auf Aufforderung der Klägerin hin, übermittelte der Beklagte eine Absagemitteilung nach § 46 UVgO, nach der die Klägerin bei ähnlicher Qualität aufgrund des höheren Preises nicht erfolgreich gewesen sei.
Nach Auffassung der Klägerin war die Zuschlagserteilung nach § 134 BGB nichtig, da der Beklagte nicht vorab über den beabsichtigten Zuschlag informiert und die Wartefrist gem. § 134 GWB nicht eingehalten habe. Die Klage auf Feststellung der Nichtigkeit wurde vom Landgericht schon wegen Verfristung abgewiesen. Es wies aber auch darauf hin, dass für die entsprechende Anwendung des § 134 GWB im Unterschwellenbereich mangels planwidriger Regelungslücke kein Raum sei. § 46 UVgO sehe eine solche Informations- und Wartepflicht bewusst nicht vor. Gegen diese Entscheidung legte die Klägerin Berufung ein.
Die Berufung blieb erfolglos. Das OLG Düsseldorf schloss sich der Sichtweise und Argumentation des Landgerichts an und nahm von seiner Rechtsprechung aus dem Jahr 2017, in der es eine Informations- und Wartepflicht auch im Unterschwellenbereich angenommen hatte, Abstand. § 134 GWB sei im Unterschwellenbereich nicht, auch nicht analog anwendbar. Schon in der Entwurfsphase der UVgO sei die Problematik der Informations- und Wartepflicht erkannt und diskutiert worden. Es könne daher keine planwidrige Regelungslücke angenommen werden. Eine solche wäre aber Voraussetzung für eine Analogie („entsprechende Anwendung“). § 46 UVgO sehe nur eine nachträgliche Unterrichtung vor. Eine Informations- und Wartepflicht ergab sich im Fall des OLG Düsseldorf auch nicht aus dem nordrhein-westfälischen Landesrecht.
Zudem verneinte das OLG Düsseldorf auch das Erfordernis einer Informations- und Wartepflicht zur Wahrung des Primärrechtsschutzes (Art. 19 Abs. 4 GG). Es stehe im Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers, das Interesse des Auftraggebers an der zügigen Durchführung einer Maßnahme und des erfolgreichen Bieters an alsbaldiger Rechtssicherheit über das Interesse des nicht erfolgreichen Bieters an Primärrechtsschutz zu stellen und den nicht erfolgreichen Bieter auf Sekundärrechtsschutz zu verweisen. Offengelassen hat das OLG Düsseldorf dagegen, ob sich im Interesse des vollständigen Rechtsschutzes aus dem Gemeinschaftsrecht eine Informations- und Wartepflicht ergeben kann. Darauf kam es mangels Binnenmarktrelevanz im konkreten Fall nicht an.
Zuletzt führte das OLG Düsseldorf aus, dass der Vertrag auch dann nicht gem. § 134 BGB nichtig sei, wenn man eine Informations- und Wartepflicht (§ 134 GWB analog) annehmen würde. Es sei im Rahmen des § 134 BGB abzuwägen, ob der Sinn und Zweck der Verbotsnorm die Nichtigkeit des Vertrags verlange. Das hat das Gericht bei der Informations- und Wartepflicht verneint, da sich die Verbotsnorm nur an einen der Beteiligten, die Vergabestelle, richte. Es sei dann regelmäßig davon auszugehen, dass das verbotswidrige Geschäft dennoch wirksam sein solle. Auch oberhalb der EU-Schwellenwerte könne der Verstoß nur im Rahmen des § 135 GWB geltend gemacht werden. Im Unterschwellenbereich könnten keine strengeren Regeln gelten, ohne dass dies einen Wertungswiderspruch darstellen würde.
Praxistipp
Die „nebenbei“ gemachten Ausführungen des OLG Düsseldorf zur Informations- und Wartepflicht 2017 (sog. „obiter dictum“) haben große Wellen geschlagen und sind auf breite Kritik bei Vergabepraktikern gestoßen. Öffentlichen Auftraggebern war nach dieser Entscheidung auch ganz ohne gesetzliche Regelung dazu zu raten, den Zuschlag anzukündigen und eine „angemessene“ Wartefrist einzuhalten. Anderenfalls war die Vertragsnichtigkeit zu befürchten.
Die Rechtsprechung aus jüngerer Zeit hat das aber korrigiert. So hat etwa das KG Berlin mit Urteil vom 07.01.2020 (9 U 79/19) klargestellt, dass es außerhalb des Anwendungsbereichs des Kartellvergaberechts keine generelle, den Vorgaben des § 134 GWB entsprechende Informations- und Wartepflicht gibt. Auch § 46 UVgO sieht nur eine nachträgliche Information über die Zuschlagserteilung vor. Eine Informations- und Wartepflicht kann sich im Einzelfall aber aus dem Landesrecht (so z. B. in Thüringen [§ 19 Abs. 1 Thüringer Vergabegesetz – ThürVgG] und Sachsen-Anhalt [§ 19 Abs. 1 Tariftreue- und Vergabegesetz Sachsen-Anhalt – TVergG LSA]) ergeben oder europarechtlich begründet sein, wenn der Auftrag Binnenmarktrelevanz (eindeutiges grenzüberschreitendes Interesse am Auftrag) aufweist. Eine „automatische“ Nichtigkeit gibt es aber selbst dann nicht. In die gleiche Richtung geht die Entscheidung des OLG Celle (Urteil vom 09.01.2020, 13 W 56/19), die auf dieser Plattform ebenfalls besprochen wird. Auch das OLG Düsseldorf hat nun eingelenkt und seine alte Rechtsprechung ausdrücklich aufgegeben. § 134 GWB ist im Unterschwellenbereich nicht, auch nicht entsprechend anzuwenden.
QUELLE
- OLG Düsseldorf, Urteil vom 13.12.2017, 27 U 25/17
- OPPENLÄNDER Rechtsanwälte mit Sitz in Stuttgart zählt bei einer Teamgröße von ca. 55 Anwältinnen und Anwälten zu den TOP 50 Kanzleien in Deutschland. Die Beratungspraxis umfasst sämtliche Bereiche des Wirtschaftsrechts. Dies gilt insbesondere auch für das Vergabe- und Kartellrecht.