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27.02.2023, Deutschland

Entscheidungsbesprechung - Erst Kosten schätzen, dann ausschreiben!

Kostenüberschreitungen bei öffentlichen Bauprojekten beschäftigen nicht nur die Öffentlichkeit und die Politik, sondern auch die Vergabenachprüfungsinstanzen regelmäßig. Die Kostenprognosen werden oft in einer frühen Phase des Bauvorhabens erstellt. Überschreiten dann die abgegebenen Angebote diese erheblich, steckt der öffentliche Auftraggeber in der Zwickmühle. Er muss entweder zusätzliche finanzielle Mittel auftreiben, oder die Aufhebung wegen fehlender Finanzierung nach § 17 VOB/A EU aufheben. Weil eine solche Aufhebung in der Regel rechtswidrig ist, sieht sich der öffentliche Auftraggeber Schadensersatzansprüchen von Bieter ausgesetzt, die einen Ersatz ihrer Kosten für die Angebotserstellung verlangen können. Der Auftraggeber ist trotzdem nicht „im Vergabeverfahren gefangen“. Das gilt selbst dann, wenn der Auftraggeber das Vergabeverfahren in Bezug auf die Kosten gänzlich sorglos oder auf einer jedenfalls unzureichenden Grundlage einleitet. Das hat das OLG Rostock am 30.09.2021 entschieden.

Was war geschehen?

Der öffentliche Auftraggeber hatte im Jahr 2019 ein Architekturbüro mit der Generalplanungsleistung für ein Bauvorhaben beauftragt. Das Architekturbüro erstellte eine Kostenberechnung in Höhe von 1,9 Mio. Euro für das Gesamtbauvorhaben. Auf Grundlage dieser Kostenberechnung beantragte der öffentliche Auftraggeber Fördermittel, die der Bund und das Land Mecklenburg-Vorpommern auch gewährten. Die Antragsgegnerin schrieb sodann auf Grundlage der Kostenberechnung die Herstellung von Baugruben, Verbau und Tiefgründung einschließlich Spezialtiefbau europaweit aus. Einziges Zuschlagskriterium war der Preis.

Erst nach Veröffentlichung der Ausschreibung, am 10. August 2020, bepreiste ein von der Antragsgegnerin mit dem Projektmanagement beauftragtes Ingenieurbüro das Leistungsverzeichnis. Es ging von einem Auftragswert in Höhe von 2,1 Mio. Euro aus.

Nur ein Unternehmen (später die Antragstellerin) reichte am 25. August 2020 ein Angebot in Höhe von 4,9 Mio. Euro ein. Die Antragsgegnerin hob das Verfahren daraufhin auf „anderen schwerwiegender Gründen“ mit der Begründung auf, die Kostenprognose sei um 129,8 Prozent überschritten worden.

Der Bestbieter wendete sich an die Vergabekammer Mecklenburg-Vorpommern und beantragte unter anderem die Fortsetzung des Vergabeverfahrens („Aufhebung der Aufhebung“), die Feststellung, in seinen Bieterrechten verletzt zu sein sowie hilfsweise die Rechtswidrigkeit der Aufhebung festzustellen. Die Vergabekammer wies den Nachprüfungsantrag zurück. Gegen diesen Beschluss wendete sich das Unternehmen mit einer sofortigen Beschwerde.

Die Entscheidung des OLG Rostock

Das OLG Rostock gab der sofortigen Beschwerde nur teilweise, nämlich im Hilfsantrag, statt und stellte die Rechtswidrigkeit der Aufhebung fest.

Weil der öffentliche Auftraggeber keine ordnungsgemäße Kostenschätzung erstellt hat, war die Aufhebung nicht vom Tatbestand des § 17 Abs. 1 Nr. 3 VOB/A EU gedeckt und damit rechtswidrig. Ein Auftraggeber muss vor einer Ausschreibung mit der gebotenen und ihm möglichen Sorgfalt prüfen, ob die Finanzierung seines Vorhabens auch unter Berücksichtigung von erkennbaren Eventualitäten ausreicht. Erfolgt diese Prüfung nicht mit der gebotenen Sorgfalt, kann das Auftreten einer Finanzierungslücke in der Folge nicht als Grund für die Aufhebung der Ausschreibung nach § 17 Abs. 1 Nr. 3 VOB/A EU herangezogen werden. Die Kostenschätzung des Auftraggebers genügte diesen Anforderungen aus zwei Gründen nicht. In der Kostenberechnung aus 2019 waren keine Preissteigerungen einkalkuliert worden. Schon deshalb konnte diese Berechnung kein wirklichkeitsnahes und ordnungsgemäßes Schätzungsergebnis liefern. Die Kostenzusammenstellung vom 10. August 2020 erfolgte zudem erst nach Einleitung der Ausschreibung und war deshalb zu spät.

Erfolglos blieb der Bieter hingegen mit seinen Hauptanträgen, mit denen er die Fortsetzung des Vergabeverfahrens und die Feststellung beantragt hatte, in seinen Bieterrechten verletzt zu sein. Denn, so das OLG: Ein öffentlicher Auftraggeber kann auch dann von einem Beschaffungsvorhaben Abstand nehmen, wenn kein gesetzlicher Aufhebungsgrund vorliegt. Kontrahierungszwang besteht nicht. Die Aufhebung ist dann zwar rechtswidrig, aber trotzdem wirksam. Nur in Ausnahmefällen kann ein Bieter die „Aufhebung der Aufhebung“ und damit die Fortsetzung des Vergabeverfahrens verlangen. Das ist dann der Fall, wenn es keinen „sachlichen Grund“ für die Aufhebung gibt und sie deshalb willkürlich ist oder die Aufhebung bei fortbestehender Beschaffungsabsicht nur den Zweck verfolgt, Bieter zu diskriminieren. Liegt hingegen ein sachlicher Grund vor, kann der Bieter „nur“ Schadensersatz verlangen.

Überschreitung der Kostenschätzung ist ein sachlicher Grund

In seiner Entscheidung sah das OLG Rostock die erhebliche Überschreitung der preislichen Erwartungen des Auftraggebers als sachlichen Grund an. Die Frage, ob das auch gilt, wenn der öffentliche Auftraggeber diesen Fehler selbst verursacht hat, weil er eben keine ordnungsgemäße Kostenschätzung erstellt hat, bejahte das OLG. Selbst wenn ein öffentlicher Auftraggeber ein Vergabeverfahren in Bezug auf die Kosten gänzlich sorglos oder auf einer jedenfalls unzureichenden Grundlage – insbesondere einer fachlich nicht vertretbaren Kostenschätzung – einleite, unterliege er keinem Kontrahierungszwang. Der Auftraggeber muss dann zwar den durch die sorg- und rücksichtslose Ausschreibung verursachten Schaden ersetzen. Er ist aber nicht durch seinen Fehler im Vergabeverfahren „gefangen“.

Praxistipp

Die Entscheidung des OLG Rostock fügt sich in eine Reihe von Entscheidungen ein, welche die Aufhebung von Vergabeverfahren als rechtswidrig aber wirksam erachten, wenn der öffentliche Auftraggeber einen „sachlichen Grund“ für die Aufhebung vorweisen kann (z.B.: BGH, 08.12.2020, XII ZR 19/19; VK Baden-Württemberg, 31.01.2020, 1 VK 69/19). Öffentliche Auftraggeber sollten Vergabeverfahren dennoch nicht vorschnell aufheben. Denn kann die Aufhebung nicht auch auf einen gesetzlichen Aufhebungsgrund gestützt werden, drohen Schadensersatzforderungen der Bieter. Regelmäßig werden dann zumindest die Kosten der Angebotserstellung zu erstatten sein. Vergabeverfahren sollten deshalb erst dann eingeleitet werden, wenn „Vergabereife“ besteht. Das setzt in jedem Fall eine ordnungsgemäße Kostenschätzung voraus.

Bieter, denen durch eine rechtswidrige Aufhebung ein an sich schon gewonnener Zuschlag wieder genommen wird, können sich auch durch die Entscheidung des OLG Rostock ermutigt sehen, Rechtsschutz zu suchen. Mit seinem Antrag, die Rechtswidrigkeit festzustellen, hat der Bieter obsiegt und damit die Grundlage für die Forderung von Schadensersatz gelegt. Der Entscheidung des OLG Rostock über das Vorliegen eines Vergaberechtsverstoßes kommt insoweit nach § 179 GWB Bindungswirkung vor Zivilgerichten zu. Gleichzeitig läuft der Bieter Gefahr, die Kosten eines Nachprüfungsverfahrens zu großen Teilen tragen zu müssen. Weil das OLG Rostock nur dem Hilfsantrag stattgab, legte es dem Bieter ¾ der Verfahrenskosten auf. Weil Rechtsschutz im Vergabenachprüfungsverfahren aber immer auf Erhalt des Zuschlags gerichtet sein muss, kann nicht nur die Feststellung der Rechtswidrigkeit verlangt werden (vgl. OLG Celle, 19.03.2019, 13 Verg 1/19). Die Freude über eine mögliche Schadensersatzzahlung kann dadurch nicht unerheblich getrübt werden.

QUELLE

AUTOR

Dr. Joachim Ott

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